Kalte Nahwärme: agrothermische Wärmeversorgung einer Plusenergiesiedlung

Von Dr. Dirk Pietruschka, Dr. Jürgen Kluge
(Quelle: bbr-online Sonderausgabe Bauma 2013, 03/2013)

In der schwäbischen Gemeinde Wüstenrot entsteht eine Plusenergiesiedlung mit hocheffizienten Wohngebäuden, die über Photovoltaik-Anlagen in der Jahresbilanz mehr Energie erzeugen als sie verbrauchen. In den Gebäuden liefern dezentrale Wärmepumpen die Wärme für die Raumheizung und das Brauchwasser. Zentrale Agrothermiekollektoren stellen die notwendige Niedertemperaturwärme für den effizienten Wärmepumpenbetrieb über ein sogenanntes Kaltwärmenetz bereit.

Als Zeichen für die energiepolitische Ausrichtung der Gemeinde Wüstenrot entsteht derzeit im Neubaugebiet „Vordere Viehweide“ eine Mustersiedlung mit ca. 25 Plusenergiegebäuden (Abb. 1). In dieser Siedlung werden in dem vom Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie (BMWi) geförderten Forschungsprojekt „EnVisaGe“ (www.envisage-wuestenrot.de) zahlreiche Maßnahmen, die auf dem Weg hin zu einer klimaneutralen Kommune notwendig sind, modellhaft umgesetzt. Zu diesen Maßnahmen zählt unter anderem die regenerative Stromerzeugung über großflächige Photovoltaikanlagen, die kombiniert mit einem intelligenten Last- und Speichermanagement zur Netzentlastung und damit zu einer deutlichen Erhöhung des eigengenutzten Anteils des regenerativ erzeugten Stroms beiträgt. Die Wärmeversorgung der sehr gut gedämmten Gebäude (mind. KfW 55 Standard) erfolgt über dezentrale hocheffiziente Wärmepumpen. Als regenerative Niedertemperaturwärmequelle kommen als bundesweit erste Pilotanwendung Agrothermiekollektoren zum Einsatz, die über ein „Kaltwärmenetz“ mit den dezentralen Wärmepumpen in den Gebäuden verbunden sind. Bei diesem innovativen Verfahren werden Rohrleitungen mit einem Spezialpflug in 2 m Tiefe in Ackerböden oder Wiesenflächen eingewoben (Abb. 2+3). Die Ackerböden bleiben so weiterhin uneingeschränkt nutzbar, sodass hier keine Flächenkonkurrenz zur Nahrungsmittelproduktion entsteht. Außerdem werden die Bodenschichtung und damit auch die Bodenbiologie nicht verändert.

Bei einer heterogenen Verbraucherstruktur mit Heiz- und Kühlanwendungen lassen sich durch das kalte Nahwärmenetz Synergieeffekte erzielen, da die Abwärme von z. B. Kühlanwendungen (Supermärkte oder Kühlbedarf in Produktionsprozessen etc.) die Temperatur im Kaltwärmenetz anhebt und so zu einer Leistungszahlsteigerung der angeschlossenen Wärmepumpen beiträgt. Umgekehrt kühlen die Wärmepumpen die Netztemperatur deutlich ab, was wiederum den Kühlanwendungen zugute kommt. Außerdem lassen sich dadurch teure Rückkühleinrichtungen vermeiden, wodurch sich der Strombedarf und damit die CO2-Emissionen der Kühlanwendungen deutlich reduzieren. In den Übergangszeiten und im Sommer trägt die über Kühlanwendungen eingespeiste Wärme zu einer schnelleren Regeneration der Erdreichtemperaturen im Bereich der Agrothermieflächen bei. In den Sommermonaten können die angeschlossenen Wohngebäude über das Kaltwärmenetz auch direkt mit sehr geringem energetischem Aufwand gekühlt werden. Agrothermie ist als Lösungskonzept zur Wärme- und Kälteversorgung insbesondere für den ländlichen Raum interessant, da hier ausreichend Acker- und Wiesenflächen zur Verfügung stehen. Außerdem ergibt sich durch die agrothermische Nutzung gleichzeitig eine entscheidende zweite Einnahmequelle für Landwirte. Im Forschungsprojekt ist geplant, Abwärme aus Kälteanlagen eines zum Baugebiet benachbarten REWE-Supermarkts in das Kaltwärmenetz einzubinden. Damit steht ganzjährig ein Abwärmelieferant zur Verfügung, der wie bereits erwähnt die Temperaturen im kalten Nahwärmenetz anhebt und so zu einer Steigerung der Energieeffizienz der angeschlossenen Wärmepumpen führt. Gleichzeitig wird eine deutliche Effizienzsteigerung in der Kälteerzeugung des Lebensmittelmarktes erreicht, sodass hier eine Win-win-Situation entsteht, von der alle profitieren.

Die Größe der Agrothermiefläche wurde unter Annahme einer möglichen Wärmeentzugsleistung von voraussichtlich ca. 25 bis 30 W pro Quadratmeter Ackerfläche mit 1,5 ha so dimensioniert, dass neben dem Wärmebedarf der Mustersiedlung von ca. 288 MWh/a noch eine Ausbaureserve für den Anschluss von Bestandsgebäuden und für eine künftige Ausweitung des Baugebiets von ca. 380 MWh pro Jahr gegeben ist. Von einigen Eigentümern der benachbarten Bestandsgebäude wurde bereits eine Anschlussbereitschaft signalisiert. Das Agrothermiefeld ist in zwei getrennt regelbare Einzelfelder (ca. 0.44 ha und ca. 1.06 ha) unterteilt, sodass hier unterschiedliche Betriebsvarianten untersucht werden können. Im Oktober und November 2012 wurde das erste der beiden Agrothermiefelder eingebracht, mit dem Kaltwärmenetz verbunden und mit einem Wasser-Glykol-Gemisch befüllt. Seit Dezember 2012 ist die erste Wärmepumpe in einem der Plusenergiegebäude in Betrieb. Die Gemeinde als Grundstückseigentümerin hat im Baugebiet den Zwang zum Anschluss an das Kaltwärmenetz, zur Umsetzung des Wärmebedarfsstandards nach KfW 55 und zur Errichtung von Photovoltaikanlagen auf den nach Süden orientierten Dachflächen mit mind. 6 kWp in den Kaufverträgen festgeschrieben.

Erfahrungen bei der Einbringung des ersten Agrothermiekollektors

Zur Vorerkundung der Bodenverhältnisse wurde vor Beginn der Montage des Kollektorfelds ein Baugrund-/Bodengutachten mit Rammkernsondierungen erstellt. Ergänz wurde dieses durch eine Probeschürfung im Feld und einen Abgleich mit dem Aushub des Kopfgrabens, die das Bodengutachten zunächst bestätigten. Bei der Montage des Kollektorfelds setzt der Spezialpflug, mit dem die Rohrleitungen in den Untergrund eingezogen werden, am Kopfgraben an. Am Ende des Kollektorfeldes wird der Pflug dann wieder langsam aus dem Boden herausgezogen. Später wird hier ein zweiter Kopfgraben erstellt. In den beiden Kopfgräben werden die Leitungen an vorgefertigten Sammlern mit speziellen Anschlussstutzen angeschlossen. Diese Sammler werden dann mit dem Kaltwärmenetz verbunden. Die fachgerechte Montage des ersten Erdkollektorregisters begann am 5. November 2012. Die zu erschließende Fläche von ca. 4.400 m² ist durch eine leichte Hangneigung und einen Untergrund mit teils hohem Feuchtegehalt gekennzeichnet. Die Kollektorrohre DA50 wurden wie geplant im Abstand von ca. 1 m auf 200 m Länge in 2 m Tiefe verlegt. Im Zuge der Kollektorverlegung offenbarten sich einige störende Sandsteinbänke. Diese konnten aber mit der vorgehaltenen Technik (Vorreißer und Bagger) bewältigt werden (Abb. 4), sodass die Montagearbeiten pünktlich nach ca. vier Tagen abgeschlossen werden konnten. Anschließend wurde das Kollektorfeld, wie oben erläutert, an das bereits bestehende Kaltwärmenetz angebunden. Die technischen Armaturen zum Betrieb der beiden Register werden in zwei Schachtbauwerken untergebracht. Die einschlägigen Qualitätsprüfungen der Register, Sammler und Zuleitungen verliefen ohne Beanstandung, d. h. es konnten keine Undichtigkeiten festgestellt werden.

Anfang Dezember 2012 wurden das Kaltwärmenetz und der angeschlossene Agrothermiekollektor mit Unterstützung der ortsansässigen freiwilligen Feuerwehr Wüstenrot mit einem Gemisch aus Wasser und Glykol (80/20 Prozent) befüllt. Parallel erfolgte die Installation der Druckhaltung für die Systemanlage. Über sie kann im Zuge des schrittweisen Anschlusses der weiteren Gebäude die notwendige Nachbefüllung erfolgen. Am 19. Dezember nahm das Anlagensystem mit der ersten Wärmepumpe erfolgreich seinen Betrieb auf. Die Besonderheit des umgesetzten Kaltwärmenetzes liegt darin, dass es keine zentrale Zirkulationspumpe gibt. Diese Aufgabe wird hier rein von den einzelnen hocheffizienten Agrothermiepumpen in den Hausübergabestationen übernommen. Dadurch wird immer nur der minimal notwendige Volumenstrom im Kaltwärmenetz erzeugt. Das zweite Kollektorregister wird planmäßig im Sommer 2013 verlegt. Zugleich wird in diesem Jahr die Plusenergie-Mustersiedlung „Vordere Viehweide“ schrittweise mit der Messtechnik zum Monitoring der Anlage ausgestattet. Aus den Erfahrungen in der Flächenerschließung des ersten Kollektorregisters konnten im Wesentlichen folgende Schlussfolgerungen zur weiteren Vorgehensweise gezogen werden: • Die Einbringung mit einem Kopfgraben und die nachträgliche Ausfertigung eines Zielkopfgrabens haben sich montagetechnisch sehr gut bewährt, • die Verlegung der Kollektorrohre längs zur Hanglage bedarf günstiger Wetterverhältnisse, um die Abdrift der Montagetechnik zu vermeiden, • die im Bodengutachten nicht angezeigten Sandsteinbänke erforderten das Vorreißen und teilweise den Einsatz eines Baggers. Ein optimiertes Verfahren zur Bodenvorerkundung wäre hier hilfreich und • die Kooperation mit der zuständigen Unteren Wasserbehörde Heilbronn als assoziiertem Projektpartner war außerordentlich produktiv. Dies schafft Erfahrungen, die in einem künftigen Leitfaden für Großkollektoren Eingang finden werden.

Thermische Leistungsfähigkeit und Planbarkeit

Bislang gibt es noch keine konkreten Erfahrungen zur Wärmeentzugsleistung von Agrothermieflächen. Hier kann lediglich auf Erfahrungswerte aus kleineren horizontal verlegten Geothermiekollektoren im Einfamilienhausbereich zurückgegriffen werden. Diese lassen je nach Untergrund nach DIN 19685 Entzugsleistungen von ca. 10 bis 40 W pro Quadratmeter erwarten. Allerdings sind dort sowohl die Verlegetiefe (ca. 1,2 bis 1,5 m) als auch der Abstand zwischen den Rohrleitungen (ca. 0,5 m) in der Regel geringer als bei den Agrothermiekollektoren, die in 2 m Tiefe mit einem Verlegeabstand von 1 m eingebracht werden. Neben diesen geometrischen Randbedingungen wird die entziehbare Wärmemenge maßgeblich auch durch die Bodeneigenschaften beeinflusst, die örtlich sehr unterschiedlich sein können. Durch Rammkernsondierungen und Probeschürfungen lässt sich der Aufbau der Bodenschichten allerdings recht genau ermitteln. Diesen Schichten können dann entsprechende wärmetechnische Eigenschaften zugewiesen werden. Zum Nachweis und zur Analyse der thermischen Leistungsfähigkeit der eingebrachten Agrothermieflächen und des Kaltwärmenetzes wird im Zuge des Projektes ein zentrales internetbasiertes Monitoringsystem aufgebaut. Hierzu werden Messstellen an den Zu- und Ableitungen der Kollektorfelder sowie zusätzliche Messstellen im Bereich des Kaltwärmenetzes zur Analyse der Volumenstrom-, Temperatur- und Druckverhältnisse eingebaut. Auf der Abnahmeseite erfolgt die Datenerfassung (Volumenströme und Temperaturen) über die Übergabestationen der Gebäude. Zusätzlich wird die thermische Leistungsfähigkeit der einzelnen Agrothermiekollektorfelder über Thermal-ResponseTests ermittelt. Für die künftige exakte Planung von Agrothermieanlagen soll im Rahmen des Projektes ein detailliertes dynamisches Simulationsmodell entwickelt und anhand von Messdaten der Demonstrationsanlage validiert werden. Hier kann das zafh.net der Hochschule für Technik in Stuttgart (Projektkoordinator) auf umfangreiche Erfahrungen aus vorangegangenen Projekten mit vertikalen Erdsonden zurückgreifen. Zur Validierung des zu entwickelnden Modells wird zusätzlich zu den bereits genannten Messdaten auch der Temperaturgradient innerhalb eines fluiddurchströmten Agrothermiekollektorrohres mittels faseroptischer Temperaturmessung auf einer Strecke von 200 m bestimmt. Die erreichbare Auflösung der Temperaturmessung liegt bei ca. 0,25 m. Bei dem sogenannten OTDR-Verfahren (Optical Time Domain Reflectometry) wird am einen Ende des Glasfaserkabels ein Signal ausgesandt, das beim Durchlaufen des Lichtwellenleiter-Kabels in Abhängigkeit von der Temperatur eine spezifische Streuung erfährt, die mithilfe der Laufzeit des Signals einem genau bestimmbaren Ort des Kabels zugeordnet werden kann. Somit können Aussagen über die Temperaturverteilung längs der verlegten Rohrleitungen getroffen werden. Die Einbringung des Lichtwellenleiters erfolgt im Zuge der Erstellung der Agrothermiekollektoren über den Verteiler der Anlage. Außerdem werden zur messtechnischen Ermittlung des Bodentemperaturprofils insgesamt fünf Temperaturlanzen à 6 m mit fünf PT100-Temperatursensoren jeweils am Rand der Messstrecke in den Boden eingebracht. Die fünfte Lanze dient zur Ermittlung der ungestörten Bodentemperatur, die in einem ausreichenden Abstand zum Kollektorfeld in den Boden eingebracht wird. Da die Bodenfeuchtigkeit einen sehr großen Einfluss auf die Wärmeleitfähigkeit des Untergrunds hat, wird diese in 1 und 4 m Tiefe messtechnisch erfasst. Eine Wetterstation mit Pyranometer zur Bestimmung der horizontalen Globalstrahlung und zur Ermittlung der Umgebungstemperatur und Luftfeuchte sowie des Niederschlags ergänzt das Monitoringsystem. Die Messdatenerfassung beginnt voraussichtlich im Frühjahr 2013 und wird sich über die verbleibende Projektlaufzeit von 3,5 Jahren erstrecken.

Intelligentes Lastmanagement

Für die Überwachung und den Betrieb des kalten Nahwärmenetzes wird von der Vattenfall Wärme AG als Wärmenetzbetreiber der Gemeinde in Zusammenarbeit mit der Doppelacker GmbH und der ads-tec GmbH ein Fernwartungssystem mit einer internetbasierten Datenübertragung und Steuerung der Anlagenkomponenten des Kaltwärmenetzes entwickelt und umgesetzt. Neben den Erfahrungen im Hinblick auf die Wärmebereitstellung über ein kaltes Nahwärmenetz mit Agrothermiekollektoren ist Vattenfall auch an einer intelligenten Steuerung der Wärmepumpen interessiert. Das sogenannte „Virtuelle Kraftwerk“ von Vattenfall erlaubt als Softwaretool mit internetbasierter Datenübertragung eine zentrale Überwachung und eine intelligente Steuerung von Stromerzeugern und Stromverbrauchern in Abhängigkeit vom aktuellen regenerativen Stromertrag (Abb. 5). In der Siedlung wird zunächst ein hoher Eigennutzungsgrad des erzeugten PV-Stroms durch die Integration von hochleistungsfähigen Akkumulatoren (Li-Ionenbatterien) und durch eine intelligente Regelung der Wärmepumpen in Kombination mit den Pufferspeichern angestrebt. Durch die Anbindung an das „Virtuelle Kraftwerk“ sollen darüber hinaus nutzbare Lastpotenziale für eine netzgeführte Steuerung des Wärmepumpenbetriebs ermittelt und genutzt werden. Ziel ist es, über ein intelligentes Lastmanagement eine stromnetzoptimierte Regelung der lokalen Wärmepumpen inkl. Wärmespeicher zu erreichen. Das zafh.net wird in diesem Zusammenhang in Zusammenarbeit mit dem ZSW (Zentrum für Sonnenenergie- und WasserstoffForschung Baden-Württemberg) mithilfe von dynamischen Simulationsmodellen unter Einbezug von Wetterprognosen Strategien zur Betriebsoptimierung (PV-Anlage, Stromspeicher und Wärmepumpe mit Wärmespeicher sowie übergeordnetes Strom netz) entwickeln. Diese werden dann in der Plusenergiesiedlung „Vordere Viehweide“ getestet. Das Forschungsprojekt Projekt „EnVisaGe“ (www.envisage-wuestenrot.de) läuft bis zum 30. Juli 2016. 

 

Autoren

Dr. Dirk Pietruschka Geschäftsführer zafh.net Hochschule für Technik Stuttgart Schellingstr. 24 70174 Stuttgart Tel.: 0711 8926-2674 Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein! www.hft-stuttgart.de

Dr. Jürgen Kluge Doppelacker GmbH Tasdorfer Str. 42 15370 Petershagen-Eggersdorf Tel.: 033439 1438-39 Fax: 033439 1438-40 Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein! www.doppelacker.com

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